Spätis in Gefahr

Spätis in Gefahr

Spätis in Gefahr 840 558 Berliner Späti e.V.

Quelle: Zitty, 6.6.2019

Der Bürgermeister von Mitte will das Sonntagsöffnungsverbot für Spätis stärker kontrollieren. Das Projekt hat zu einer berlinweiten Debatte geführt. Einige sehen die Spätikultur in Gefahr – andere fürchten eine Spätiparty- Eskalation. Wie steht es um den Berliner Dauer-Alkoholservier-Service?

Es ist Sonntagmittag. Ein Spätkauf auf der Sonnenallee hat seine Rollos heruntergelassen, die Tür steht aber offen. Zwei Männer haben sich wie Türsteher eines Clubs davor postiert. Wer hinein will, wird kritisch beäugt. Dann treten die Beiden zur Seite, es darf passiert werden. Die Beleuchtung innen ist etwas gedimmt, an Bierkisten lehnen die Bänke, die sonst vor der Tür stehen, sie sind zusammengeklappt. Sonst sieht der Laden so aus wie an jedem anderen Wochentag. An diesem Sonntag finden sich entlang der Sonnenallee zahlreiche Spätis, die inoffiziell geöffnet haben. Je weiter sich die Straße aus der Innenstadt entfernt, desto weniger Mühe geben sich die Verkäufer mit der Tarnung.

Ihnen drohen 250 Euro Strafe, mit jedem weiteren Verstoß verdoppelt sich die Geldbuße. Das geht bis zu 10.000 Euro und in machen Fällen kommt es sogar zum Entzug des Gewerbescheins. Aber: „Sonntag ist der wichtigste Tag“, sagt der Verkäufer in dem Sonnenallee-Spätkauf mit den zwei Türstehern davor. Viele der Läden sind auf das Sonntagsgeschäft angewiesen, um zu überleben. Die Konkurrenz ist groß. Am Sonntag sei der Erlös um ein Vielfaches höher als an anderen Wochentagen, sagt der Verkäufer vom Türsteherspäti. „Da machen wir fast 40 Prozent von unserem Wochenumsatz.“ Logisch: Sonntags gibt es keine Konkurrenz durch Supermärkte. Wer dann etwas braucht – Tabak, Alkohol, Lebensmittel –, ist auf den Spätkauf angewiesen.

Die Möglichkeit, an jedem Tag, zu jeder Uhrzeit, alles zu bekommen, was man begehrt, ist Teil des Berliner Lebensgefühls. Der Späti ist in Berlin ein Kulturgut, das zum Stadtbild gehört wie der Fernsehturm. Für Touristen, die Berlin besuchen, sind die Spätis oft eine günstige Sauf-Station auf ihrer Partytour. Im Späti Drink Drunk am Schlesischen Tor legt gelegentlich sogar ein DJ auf. Die Sonntagsfrage der Spätis kann auch als Gradmesser für die Identität der Stadt herhalten. Ist Berlin noch Zufluchtsstätte für jeden, der Lust auf Party, aber ein schmales Portemonnaie hat?

Für mehr Kontrollen fehlt das Personal

Gerade wächst der Unmut dagegen. Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), will sonntags verstärkt kontrollieren, ob Spätis illegal geöffnet bleiben. Aus seiner Sicht werden die Spätis immer mehr zum Problem, in den letzten zwei Jahren habe sich ihre Zahl in Mitte etwa verdoppelt. Am Rosenthaler Platz sei die Späti-Dichte besonders hoch, auch die Begleiterscheinungen – grölende Horden, Wildpinkler, Flaschensplitter – seien hier besonders problematisch. „Ich glaube, dass individuelle und gesellschaftliche Freiheit nicht mit Konsummöglichkeiten rund um die Uhr gleichgesetzt werden sollte“, sagt von Dassel. Er entfachte mit seiner Kritik einen Glaubenskrieg, auch innerhalb seiner Partei, den Grünen. Die wollen die Sonntagsöffnung für Spätis erlauben, auch die FDP ist dafür. Doch die zuständige Senatorin Elke Breitenbach (Linke) stellt sich quer.

Sonntagabend in der Hermannstraße, ein Pärchen, Harriet und Dirk, sitzt vor dem „Spätkauf 178” auf einer Bank und führt eine angeregte Unterhaltung, als ein Streifenwagen mit Blaulicht herbeirast und direkt vorm Späti parkt. Eine Kontrolle? Nein, zwei Beamte widmen sich einer Gruppe Jugendlicher, die sich nebenan vor einer Shisha-Bar postiert haben. Es ist weit nach 22 Uhr, doch die laue Mainacht treibt die Bewohner des Körnerkiezes noch vor die Haustür. Zu den Spätis. „Wenn geiles Wetter ist, habe ich auch keinen Bock in eine stickige Kneipe zu gehen. Hier gibt es doch auch kaltes Bier“, sagt Dirk und erklärt seiner Bekannten aus London, dass Berlins Ladenschlussgesetz eigentlich besagt, dass die Spätis jetzt geschlossen sein müssen. ­Harriet sagt in gebrochenem Deutsch, dass sie Berlin als Insel in Europa wahrnimmt. „Free Spirit“, fügt sie hinzu.

Spätis sind in Berlin demselben Ladenöffnungsgesetz unterworfen wie alle anderen Läden. Das heißt: Sie dürfen Montag bis Sonnabend rund um die Uhr öffnen, aber wenn der Sonntag anbricht, ist ab Punkt null Uhr für 24 Stunden Schluss. Doch es gibt zahlreiche Ausnahmen: Läden, die Touristenbedarf, Tabak sowie Lebens- und Genussmittel zum sofortigen Verzehr verkaufen, dürfen sonntags von 13 bis 20 Uhr öffnen. Wer Zeitschriften und Backwaren anbietet, kann diese von 7 bis 16 Uhr verkaufen. Auf jeden Fall verboten ist der Handel in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag. Dann, wenn der Bedarf an Alkohol am größten ist.

Samstagabend in Berlin-Mitte: „Wollen wir noch einen Wein mitnehmen?“, fragt eine junge Frau. Sie hat gerade mit zwei Freundinnen den „M.K. Späti“, betreten, einem von den zwölf Spätis rund um den Rosen­thaler Platz. Hassan, der bis eben noch hinter dem Tresen gesessen hat, steht auf. Während zwei der Frauen das bunte Arsenal aus Kaltgetränken hinter den Glas­türen der Kühlschränke prüfen, läuft die Dritte bereits zur Kasse. Mit den Armen presst sie sieben Bierflaschen gegen ihren Bauch. „Ach, das reicht doch erstmal“, sagt sie und stellt ihre Beute vor Hassan ab. Er lächelt, fragt freundlich „Alles?“, nimmt zehn Euro entgegen und gibt 90 Cent heraus. Die jungen Frauen stapfen mit ihren Erfrischungen wieder auf die Torstraße und Hassan setzt sich zurück an seinen Laptop.

„Eigentlich ist das ein entspannter Job“, sagt er. „Ab und zu Bier nachräumen, mit Kunden reden, ansonsten schaue ich viel Youtube.“ Auch in Wedding und Charlottenburg stand er schon hinter der Theke. „In Wedding war es nicht so, dass die Leute um 13 Uhr schon angefangen haben, Bier zu trinken“, sagt er, „aber hier sind fast nur Touristen und für die ist das Teil von Berlin. Die kommen her, um genau das zu erleben.“

Eigentlich müsste der „M.K. Späti“ in wenigen Stunden schließen und auf das Geld der Touristen verzichten. In der Realität aber werden in dieser Nacht noch viele Kunden ihr Bier auf dem Bürgersteig am Späti trinken. Denn auch wenn von Dassel sonntags ab null Uhr in Mitte keine geöffneten Spätis mehr sehen möchte: Für flächendeckende Kontrollen fehlt das Personal. Gegebenenfalls werde der Bezirk Kontrollschwerpunkte festlegen, sagt von Dassel. Mehr Personal fürs Ordnungsamt gebe es aber nicht.

Das Neuköllner Bezirksamt geht ähnlich mit den sonntags öffnenden Spätis um: „Das Ordnungsamt hat keine spezielle Anweisung, Spätis verstärkt zu kontrollieren. Wir sind ein großer Bezirk mit normalen Kapazitäten“, sagt Pressesprecher Christian Berg. Und: „Wir machen keine Hexenjagd auf Spätis. Aber wir ignorieren auch nicht das Berliner Ladenschlussgesetz.“

Rund um den „M.K. Spätshop“ mutet das Ladenschlussgesetz wie eine leere Drohung an. An diesem Samstagabend versammelt sich immer mehr partyhungriges Volk, bereit, die Hauptstadt zu erobern. ­Viele Sprachen hallen durch die Gassen, das Zischen beim Öffnen von Bierflaschen ist so präsent wie die Verkehrsgeräusche. Die Gegend ist ein Vergnügungsviertel, aus Reiseführern bekannt. Weil manche Bänke oder Stehtische vor den Spätis bereits überfüllt sind, stehen Gruppen auf dem Fußweg. Immer wieder müssen Fahrzeuge das Tempo drosseln, weil angetrunkene Passanten achtlos die Straße überqueren. Ein paar weintrinkende Spanier stimmen beim Vorbeischlendern ein Fußballlied an.

Der alte, inhabergeführte Späti ist in Berlin ein Auslaufmodell. Immer mehr Späti-Ketten übernehmen das Geschäft. Auch der „M.K. Spätshop“ am Rosenthaler Platz hat eine Zweitfiliale und bietet einen Online-Lieferservice ab 21 Uhr an. Manche Spätverkaufsstellen würden zu regelrechten Ersatz-Kneipen mit komfortablen Sitzarealen mutieren, meint von Dassel. Anders als Kneipen müssen die Spätis aber keine Toiletten für die Trinker*innen bereitstellen. Die Nebenwirkung sieht man in den Hauseingängen rund um den Rosenthaler Platz: trocknende Lachen aus Urin. Daneben: Glasscherben, Zigarettenstummel und Kronkorken.

Der extreme Alkoholkonsum rund um die Spätis führe zur Verwahrlosung der Nachbarschaft, moniert auch die Einwohnerinitative Rosenthaler Platz/Weinbergsweg. Die Mitglieder organisieren private Putzaktionen, weil die BSR den Dreck nicht bewältigen kann.

Der Späti als Gemeindezentrum

In Wedding ist die Spätisierung noch nicht so weit fortgeschritten. Hier sind die Anwohner noch dankbar über die Möglichkeit zum sonntäglichen Einkauf. „Der ­Späti ist oft mein Lebensretter“, sagt Lena, Anfang 30. Sie steht auf der Otawistraße vor einem Spätkauf und hat eine Packung H-Milch in der Hand. Eine Freundin ist mit ihren Kindern übers Wochenende zu Besuch und heute morgen sollte es für alle Eierkuchen geben. Nur hatte Lena gestern vergessen, noch Milch zu besorgen. Eine kleine Katastrophe für den Besuch, scherzt sie.

Doch um das sonntägliche Frühstück zu retten, braucht sie in Berlin nicht einmal die Hausschuhe auszuziehen. Eine der ersten Fragen, die sich Lena bei der Wohnungssuche stellte, war die, ob es einen Spätkauf in der Nachbarschaft gebe. Ein Kiez ohne Späti sei leblos. Natürlich kaufe sie dort oft eher kleine Sünden wie Schokoriegel oder Weißwein. So ein Geschäft an der Ecke sei eben eine ständige Versuchung.

Lenas Haus-Späti wirkt gemütlich. Es gibt eine Sitz­ecke für kleine Gruppen, Kaffee wird angeboten und draußen sind Bänke aufgestellt. Dort sitzen zwei Radfahrer, die das Wochenende mit einem Weißbier zelebrieren. Dass sich der Shop in Fußmarschnähe zum Volkspark Rehberge auch noch „Tante-Emma-Laden“ nennt, geht da fast als Karikatur auf die aktuelle Debatte durch. „Wenn es warm ist, sitzen hier schon mehr Menschen und trinken Bier“, sagt Lena. „Aber das stört eigentlich niemanden.“ Der Exzess, der gut fünf Kilometer weiter südöstlich am Rosenthaler Platz tobt, liegt hier ganz fern. Der Norden Weddings bietet zumindest am Sonntagmorgen keine Anzeichen von Anarchie.

Der Späti ist in vielen Bezirken eine Art Gemeinde­zentrum, nicht nur ein Nahversorger für Biernachschub. Er ist ein Rückgrat der Kiezkultur, wenn man so will. „Manche Kiezbewohner, die zum Beispiel der deutschen Sprache weniger mächtig sind, brauchen Hilfe bei Briefen oder Anrufen. Die kommen alle zu mir“, sagt Alper Baba. Baba ist der Cheflobbyist der Berliner Spätis. Er gehört zum Vorstand des Vereins „Späti“, der sich für die Belange der Einzelhändler einsetzt. Baba ist gerade in Neukölln zu Besuch im Spätkauf „World Connection Weser“, der seinem Vereinskollegen Firat Yildiz gehört.

Yildiz hat den Laden vor 13 Jahren von seinem ­Vater übernommen, seitdem hat sich das Geschäft massiv verändert. Vor 13 Jahren gab es noch kaum Touristen im Kiez, heute stellen sie die Hauptklientel. Yildiz hat aber weiterhin ein nachbarschaftliches Verhältnis zu seinen Kunden. „Ein paar haben sogar ihren Zweitschlüssel bei mir hinterlegt“, sagt er und begrüßt einen Stammkunden, der seine Post abholen will. Yildiz und Baba sind überzeugt, dass die Lage deeskaliert werden müsse. Anders als der „M.K. Spätshop“ in Mitte bietet Yildiz‘ Spätkauf „World Connection Weser“ in der Weserstraße keine Sitzgelegenheiten draußen an. „So verlangt es das Gesetz“, sagt er.

Neben Yildiz arbeiten auch sein Vater, seine Brüder und andere Familienmitglieder im Laden. Ein echter Familienbetrieb. Spätis wie dieser sind die moderne Fortsetzung des Tante-Emma-Ladens, der im deutschen Geschichtsbewusstsein oft mit heimeligen Gefühlen konnotiert ist. Doch viele Spätis werden von Bürgern betrieben, die nicht-deutsche Wurzeln haben. „Viele der Späti-Betreiber kommen aus der Türkei, Sri Lanka oder Indien, zahlen aber ganz normal hier ihre Steuern“, sagt Alper Baba, der Späti-Vereinsvorstand. „Daher haben manche den Eindruck, diese Diskussion um den Sonntag sei das Ergebnis von einer Diskriminierungpolitik.“

Yildiz fügt an, dass die Sonntagsregelungen zum Beispiel auch für Tankstellen mit Waschstraßen gelten würden, da sie diese sonntags nicht betreiben dürften. Von dortigen Kontrollen durch das Ordnungsamt haben aber weder er noch Alper Baba etwas gehört.